Für den Notfall

14.05.2007 / LOKALAUSGABE / NIEDERRHEIN

ÜBUNG. Ein alter Gelenkbus ersetzt die abgestürzte Maschine. Sonst sieht bei dem Großeinsatz alles echt aus. Fast. Gut, noch gibt es keine innerdeutschen Flüge nach oder von Weeze. Aber nehmen wir mal an, die Strecke Frankfurt-Hahn - Weeze würde bedient. Und nehmen wir weiter an, Flugnummer AEX 112 der Air Exercise hätte beim Landeanflug auf Weeze einen Triebwerkausfall. Nehmen wir weiter an, der Pilot der Maschine sei - warum auch immer - nicht gut drauf und versage auf ganzer Linie. Dann hätten wir ein Problem. Ein dickes Problem. Ein Großschadensereignis. Und ein schauriges Szenario für eine große grenzüberschreitende Notfallübung am Flughafen.

18.01 Uhr: Flughafen Weeze, irgendwo zwischen den pastellockerfarbenen Wohnhäusern, in denen früher britische Soldaten lebten. Da liegt es, das Wrack von AEX 112. Grau, lang, alt. Sieht nicht aus wie ein Flugzeug, ist auch ein alter Gelenkbus. Drinnen schreien sich schon die Verletzten warm, trommeln gegen die Scheiben. "Holt mich hier raus!".18.05 Uhr: Feuerwehrgerätehaus, Kevelaer. Gerd Grüntjens-Denißen und seine Männer vom Löschzug Twisteden fahren mit ihrem Löschgruppenfahrzeug LF 8 los Richtung Weeze. Brandinspektor Grüntjens-Denißen, von Beruf Landwirt, ist entspannt. Ist ja keine geheime Übung. "Et kommt wie et kommt." Soviel weiß der Löschzugführer: Seine Männer sollen Menschen retten, unter Atemschutz. Auf dem Weg nach Weeze müssen sich die Blauröcke an die Straßenverkehrsregeln halten. Kein Alarm, keine Sonderrechte.18.06 Uhr: Am Wrack kommen die ersten Rettungskräfte an. Die Flughafen-Feuerwehr. Die Männer brechen die Tür von AEX 112 auf, das Kommando "Wasser marsch!" ertönt, aus der Spritze kommt Schaum. Nur sicherheitshalber. Beim Crash ist Kerosin ausgelaufen.18.11 Uhr: Die ersten Verletzten werden geborgen. Sehen gruselig aus, benehmen sich gruselig. So ein Absturz kann schon schocken.18.12 Uhr: Die ersten Notarztwagen treffen ein. Jede Menge Blaulicht. Eine Frau wird aus dem Wrack geholt, sie jammert, weint und klagt. "Schon gut, ist ja nichts passiert", beruhigt sie der Feuerwehrmann, der sie zur provisorischen Verletztenablagestelle führt. Kein Opfer wird alleine gelassen, auch wenn es unverletzt ist.

Wo ist meine Schwester?

18.16 Uhr: Der erste Verletzte, der auf einer Trage transportiert werden muss. Ganz bleich, ganz fiese Fleischwunde. Blut spritzt. Die Feuerwehrleute bleiben cool. Kreisbrandmeister Paul-Heinz Böhmer ist unruhig. Die Notarztwagen versperren seinen Leuten den Weg, die Feuerwehr steht im Stau. Die Koordination zwischen Krisenstab, Leitstelle und dem Einsatzleitwagen vor Ort läuft noch nicht richtig. Die Rückmeldungen laufen zu langsam. Hektischer Funkverkehr. Hinter der Verletztenablagestelle wird der Behandlungsplatz aufgebaut. Vier große Zelte, mit Pressluft aufgepumpt. Irgendwo anders auf dem Gelände legen zwei Feuerwehreinheiten eine 500 Meter lange Wasserleitung. Derweil ist die Polizei eingetroffen. Die Beamten sichern, passen auf, dass keiner der Passagiere unter Schock durchs Gelände irrt.

18.20 Uhr: Gerd Grüntjens-Denißen und seine Männer sind da, helfen beim Abstransport der Passagiere. Warum seine Leute unter Atemschutz in das Wrack müssen, weiß der Löschzugführer nicht. Er hat keine Maske auf. "Da ist einer verblutet neben mir", weint eine junge Frau. "Wo ist meine Schwester, wo ist Ursula", schreit ein junger Mann mit dramatischer Platzwunde auf der Stirn.

18.36 Uhr: Das Wrack ist leer. Nahezu. "Da sind jetzt nur noch die Toten drin", sagt der Twistedener Löschzugführer. Vier sind es. "Hat der Notarzt bestätigt." Grüntjens-Denißen kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. "Wir hätten nicht gedacht, dass wir beim direkten Rettungseinsatz mitmachen. Wenn man sich so voll einbringen kann, ist das schon toll."

18.45 Uhr: Alle Passagiere sind an der Ablagestelle das erste Mal gesichtet worden. Jeder hat eine Karte um den Hals. Darauf stehen der Name und der Grad der Verletzung. I steht für eine schwere Verletzung, II für Frakturen, III für kleinere Wunden. IV ist nicht gut. Ohne Überlebenschance, abwartende Betreuung. Von EX gar nicht erst zu sprechen. Die Unverletzten werden zum Betreuungsplatz in einer Weezer Grundschule gefahren. Da werden sie von Polizeibeamten vernommen. Die Unglücksursache muss schließlich geklärt werden. Die Verletzten werden zu einer zweiten Sichtung zum Behandlungsplatz transportiert, dann in Zelte mit den Nummern I bis III gebracht. Das Zelt mit der Nummer IV bleibt heute leer. Nach der ersten Behandlung werden die Verletzten in umliegende Krankenhäuser gefahren.

19.00 Uhr: Im Flughafen reden Kriminalbeamte mit Menschen, die auf der Suche nach Angehörigen sind, die im Flug AEX 112 saßen. Daten werden gesammelt und abgeglichen. Ein neues System ist im Einsatz. Das GSL-Net, das vor der Fußball-WM eingeführt wurde. Damit haben die Beamten direkten Zugriff auf Melderegister. GSL steht für Großschadenslage.19.45 Uhr: Pressekonferenz. Die Übung ist noch nicht zu Ende, die Verantwortlichen sind aber schon jetzt zufrieden: "Das ist sehr ordentlich verlaufen", sagt Landrat Wolfgang Spreen. Beeindruckt hat ihn die realitätsnahe Darstellung der Verletzten. Polizeidirektor Rüdiger Kunst vom ständigen Führungsstab in Essen, der den polizeilichen Einsatz geleitet hat, formuliert es so: "Ich sehe zuversichtlich in eine Reallage hinein."20.00: Gerd Grüntjens-Denißen und seine Männer rücken ab. Vorher gabs noch Verpflegung. "Im Großen und Ganzen wars realistisch", urteilt der 51-Jährige, der seit dreißig Jahren bei der Feuerwehr ist. "Etwas unübersichtlich, ja, aber so ist das eben."22.00: Die Übung endet. Auch die Polizisten haben ihre Ermittlungen vor Ort abgeschlossen.

Mehr Fotos von der Übung unter www.nrz.de/kleve.


JAN JESSEN