Das Jobwunder vom NiederrheinN

Land und Leute 

Gestern sind die aktuellen Arbeitsmarktzahlen veröffentlicht worden. Nirgendwo am Niederrhein sind sie so niedrig wie im Süden des Kreises Kleve. Die Quote von 4,7 Prozent in Geldern ist eine der niedrigsten in NRW. Kehrseite des Erfolgs: Für Unternehmen wird es schwierig, Fachkräfte zu finden.

VON JÜRGEN STOCK

Geldern Der Firma von Thomas Bockstegers (48) geht es prächtig. Die Aufträge für das Gelderner Stahlbauunternehmen rauschen nur so herein. Die Wirtschaft am Niederrhein brummt, da sind Bockstegers’ Hallen-Konstruktionen gefragt. Trotzdem ist der Chef unzufrieden. Seit über neun Monaten sucht er schon einen Technischen Zeichner - und findet keinen. Auch die Stelle eines Bauingenieurs wäre zu besetzen. „Neulich hat sich mal eine junge Ingenieurin vorgestellt“, berichtet Bockstegers. „Als sie hörte, dass sie viel zeichnen muss, hat sie gesagt: ,Danke, das ist nicht das Richtige für mich.’“

Wie Bockstegers geht es vielen Firmenchefs und Personalleitern im südlichen Kreis Kleve. Der Fachkräftemarkt ist praktisch leergefischt. Die Arbeitslosenquote im Geschäftstellenbereich Geldern der Agentur für Arbeit liegt bei 4,7 Prozent. Das ist noch weniger als in den Bezirken Coesfeld und Rheine, die ebenfalls eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in NRW haben.

Allerdings geht das Jobwunder in den Statistiken Monat für Monat unter, weil die Zahlen für die Kommunen Wachtendonk, Straelen, Geldern und Issum in den Daten des Bezirks Wesel enthalten sind, der in Teilen noch vom Bergbau geprägt ist. Dort beträgt die Quote rund sieben Prozent.

Markus Brandenbusch von der Agentur für Arbeit in Wesel nennt sechs Gründe für den Erfolg der Gelderländer:

1.) Es gibt einen gesunden Branchenmix. Dadurch ist die Region weniger anfällig für Krisen als andere.

2.) Die Niederlande werben verstärkt Arbeitskräfte ab. Aufgrund des wesentlich flexibleren Arbeitsrechts mit Kündigungsfristen von teilweise nur einem Tag finden dort auch Menschen einen Job, die in Deutschland schwer vermittelbar sind.

3.) Einige größere Unternehmen in den Bereichen Gartenbau und Lebensmittelindustrie sind auf Expansionskurs. Dazu zählen der Pflanzenvermarkter Landgard sowie die Lebensmittelproduzenten Bofrost, Kühne und Bonduelle.

4.) Der Flughafen Weeze mit rund 700 Beschäftigten hat sich als Job-Motor für die Region erwiesen. Ein Freizeit- und ein Gewerbepark am Flughafen wird weitere Stellen schaffen.

5.) Im Kreis Kleve leben viele zugezogene Pendler. Sie haben überwiegend höherwertige Berufsqualifikationen und sind deshalb seltener von Arbeitslosigkeit betroffen.

6.) Die Städte und Gemeinden des Kreises Kleve zählen zu den so genannten Optionskommunen, die keine ARGE gegründet haben, sondern sich ohne Einflussnahme der Agentur für Arbeit um Hartz-IV-Empfänger kümmern.

Im Kreis Kleve sind nicht nur Fachkräfte gefragt. Auch ungelernte Kräfte kommen schneller in Lohn und Brot. Das räumt auch Brandenbusch ein. „In den vergangenen Monaten waren in Geldern von 80 Arbeitslosen, die vermittelt wurden, 65-Hartz-IV-Empfänger.“

„Wir haben hier eben ein gut ausgebautes Netzwerk und kurze Wege“, sagt Markus Grönheim, der für die Stadt Geldern Langzeit-Arbeitslose betreut. Bürgermeister, Ratsmitglieder, Wirtschaftsförderer, Mitarbeiter von Jugend-, Sozia- und Ordnungsamt - alle zögen an einem Strang, um Mitbürgern möglichst schnell wieder zu einem Job zu verhelfen. „Bei uns ist es anders als bei der relativ anonymen Agentur für Arbeit. Hier trifft man die Leute, mit denen man morgens ein Beratungsgespräch geführt hat, nachmittags beim Einkaufen.“

Verantwortungsgefühl setzt Kreativität frei. So brachten Arbeitsmarktexperten in Geldern ein Künstlerehepaar mit jugendlichen Schulabbrechern zusammen. Gemeinsam entwickelte das ungewöhnliche Team unter dem Titel „Drachenweg“ ein Konzept für die Gestaltung eines Naherholungsgebiets.

Trotz der Erfolge wird Grönheim nicht übermütig: „Bis zur Vollbeschäftigung ist es noch ein gutes Stück“, sagt er. Aber er räumt ein, dass es ihm immer schwerer fällt, die Nachfrage der Wirtschaft nach motivierten Arbeitskräften zu befriedigen.

Vor allem Schlosser aller Fachrichtungen sind praktisch nicht zu bekommen. Das hat auch Helmut Ertner vom Spezialmaschinenbauer Slickers in Geldern erfahren. Er würde gerne in seinem Unternehmen eine zweite Schicht einführen: „Aber dafür fehlen uns die Leute. Wir haben schon im vergangenen Jahr etliche Aufträge verschoben, das droht uns auch in diesem Jahr wieder.“

Thomas Bockstegers musste sogar etliche Aufträge ablehnen, weil er sie in seinem Zehn-Mann-Betrieb nicht abarbeiten konnte. Die Vergabe von Konstruktionszeichnungen an Fremdfirmen hat sich als zu teuer und fehleranfällig erwiesen. Aber Verstärkung ist bislang nicht in Sicht. Manchmal möchte der Chef verzweifeln: „Ich habe zwei unbesetzte Arbeitsplätze, die mit dem Modernsten ausgestattet sind, was die Technik derzeit zu bieten hat. Das ist, als hätte man zwei Ferraris in der Garage stehen, aber keinen Führerschein, um sie zu fahren.“

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